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Pflegende Angehörige vs. Betroffene. Wessen Befindlichkeit und Lebensglück sind beeinträchtigt?

Ergebnisse eines Workshops der Selbsthilfe von LIS e.V. von Karl-Heinz Pantke a,b) und Linda Loschinski b). Über das Thema hielt Dr. Karl-Heinz Pantke beim 12. MAIK Münchner außerklinischer Intensiv Kongress im Oktober 2019 einen Vortrag.

 

a: LIS e.V., Geschäftsstelle am Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge gGmbH (Lehrkrankenhaus der Charité), Haus 30, Herzbergstraße 79, 10365 Berlin, b: Christine Kühn Stiftung, Mansteinstr. 3, 10783 Berlin

Zusammenfassung
Pflegende Angehörige und Betroffene empfinden die Situation nach einem Schlaganfall und dessen Folgen als gleichermaßen schwierig. In beiden Gruppen führt dies zu einer Verringerung der Allgemeinen Lebenszufriedenheit. Bei pflegenden Angehörigen ist dadurch das Stimmungsniveau gedrückt wird, während bei Betroffenen kein Leidensdruck zu verzeichnen ist. Ihr Stimmungsniveau entspricht dem eines gesunden Menschen. Pflegende Angehörige sind viel mehr durch die Situation belastet als die Betroffenen selbst.

Einleitung
Pflegende Angehörige sind einer hohen körperlichen und psychischen Belastung ausgesetzt. In einer Publikation des Robert Koch – Instituts [1] finden wir hierzu: „Pflegende Angehörige, insbesondere Frauen mit hoher Pflegebelastung, berichten signifikant häufiger einen schlechten körperlichen und psychischen Gesundheitszustand als nicht pflegende Angehörige, haben eine schlechtere gesundheitsbezogene Lebensqualität und ein höheres Risiko psychisch zu erkranken.“ In obiger Studie wird nicht nach Krankheitsbildern unterschieden. Detaillierte Untersuchungen liegen bislang nur für die Pflege von Demenzkranken [2], [3] vor. Diese Studie beleuchtet die psychische Belastung der Angehörigen bei der Pflege von Personen mit einem Leiden rein körperlicher Natur. Hierzu eignet sich besonders gut das Locked-in Syndrom [4], [5] bei dem sämtliche motorischen Eigenschaften erloschen sind, ohne einer Beeinträchtigung kognitiver Fähigkeiten.

Das Krankheitsbild des Locked-in Syndroms
Das Locked-in Syndrom, Folge einer besonders schweren Form eines Schlaganfalls, ist wahrscheinlich so alt wie die Menschheit. Die Namensgebung erfolgte jedoch erst 1967 durch die Wissenschaftler Plum und Posner [6]. Diese beschreiben das Locked-in Syndrom wie folgt: „Ein Zustand, in dem … motorische Fähigkeiten erloschen sind, was zu einer Lähmung aller vier Gliedmaßen führt … ohne dass das Bewusstsein beeinträchtigt wird. Die Lähmung verhindert eine Kommunikation mit Worten oder Bewegungen des Körpers …“. Oft wird ein Locked-in Syndrom durch einen Schlaganfall im Hirnstamm verursacht. Ursache dafür ist meist eine Basilaristhrombose, wodurch die Blutversorgung im Stammhirn dramatisch eingeschränkt wird. Das Stammhirn ist Ort lebenswichtiger Funktionen. Deshalb ist die Sterblichkeit in der Akutphase sehr hoch. Ein Locked-in Syndrom kann aber auch ganz andere Ursachen haben, wie z. B. das Endstadium einer amyotrophen Lateralsklerose (ALS), Meningitis (Hirnhautentzündung) oder ein Trauma. Ein Locked-in Syndrom wird oft mit einem Wachkoma verwechselt. Der Patient mit dem Locked-in Syndrom ist dabei im Unterschied zum Patienten im Wachkoma jedoch bei vollem Bewusstsein, kann sich aber nicht bemerkbar machen. Ein Artikel von „Der Spiegel“ [7] bezeichnet Fehldiagnosen als moderne Variante des lebendig begraben Seins. Berichte von Betroffenen [8], [9] lassen diesen Zustand plastisch nachvollziehen. Interviews mit Langzeitüberlebenden des Locked-in-Syndroms sowie ihren pflegenden Angehörigen sind in [10] zu finden.

Die Umfrage
Die Umfrage fand im Rahmen eines Workshops des Vereins LIS (Locked-in Syndrom) e.V. statt. Es nahmen knapp 30 Vereinsmitglieder teil. Im Fokus der Veranstaltung stand die Belastung pflegender Angehöriger. Hierzu wurden von den Teilnehmern Fragebögen ausgefüllt.

Die Fragebögen lassen sich drei Untergruppen zuordnen: Betroffene des Locked-in Syndroms, pflegende Angehörige sowie Gesunde, die als Kontrollgruppe dienen. Alle Gruppenparameter sind in Tab. 1 zusammengefasst. Bei den Betroffenen liegt der durchschnittliche Barthelindex bei 40, für pflegende Angehörige der durchschnittliche Zeitaufwand bei 12 Stunden pro Tag (einige Angehörige geben an, dass sie 24 Stunden im Einsatz sind). Die Angehörigen mussten seit mindestens einem halben Jahr in der Pflege engagiert sein. Andre Ausschlusskriterien gibt es für Betroffene. Der Schlaganfall musste mindestens zwei Jahre zurückliegen. Weiterhin dürfen Betroffene weder Schmerzen haben, noch über unzureichende Kommunikationsmöglichkeiten verfügen.

Für die Umfrage wurde die „habituelle subjektive Wohlbefindensskala“ von Dalbert [11] ausgewählt. Dieser zerfällt in die Teiltests „Stimmungsniveau“ und „Allgemeine Lebenszufriedenheit“, siehe schematische Darstellung. Die Skala „Allgemeine Lebenszufriedenheit“ liefert eine Situationsbeschreibung und setzt sich aus sieben Items zusammen wie, z. B. „Ich bin mit meinem Leben zufrieden.“ oder „Wenn ich an mein bisheriges Leben zurückdenke, so habe ich viel von dem erreicht, was ich erstrebe.“ Die Skala „Stimmungsniveau“ liefert eine Bewertung der Situation d. h. beschreibt die emotionale Dimension. Sie besteht aus sechs Items wie, z. B. „Ich fühle mich meist so, als ob ich vor Freude übersprudeln würde“ oder „Ich halte mich für eine glückliche Person.“

Teilnehmer der Umfrage bewerteten obige Items anhand einer sechsstufigen Skala mit den Endpolen „stimmt genau“ (= 6) und „stimmt überhaupt nicht“ (= 1). Alle Items können aufsummiert oder bei Bedarf getrennt die Teiltests „Stimmungsniveau“ und „Allgemeine Lebenszufriedenheit“ berücksichtigt und durch die Anzahl entsprechenden Items dividiert werden. Für pflegende Angehörige, Kontrollgruppe und Betroffene werden so Werte bestimmt, die im nächsten Abschnitt interpretiert werden.

Ergebnisse
Für pflegende Angehörige verdeutlicht Abb.1a den Rückgang des durchschnittlichen Wertes für das Wohlbefinden (Gesamttestergebnis). Dieser beträgt im für die Kontrollgruppe 4,9, für Angehörige aber nur 3,8. Das gleiche Ergebnis wird in Abb. 1b nach Personen aufgelöst. Aus der Standartabweichung von SD = 0,42 lässt sich der Vertrauensbereich berechnen und ist als Balken an den Einzelpersonen abgetragen. Die Länge der Balken entspricht einem Vertrauensbereich von 99%. Deutlich ist zu sehen, wie die Werte der pflegenden Angehörigen von keinem Balken berührt werden. (1) Obwohl die Anzahl untersuchter Personen relativ klein ist, kann eine Verringerung des Wohlbefindens pflegender Angehöriger deutlich festgestellt werden.

Es ist interessant, obiges Ergebnis nach den Untertests auf zu teilen und zusätzlich mit der Betroffenengruppe zu vergleichen. Die allgemeine Lebenszufriedenheit ist sowohl für pflegende Angehörige wie auch Betroffene verringert, siehe Abb. 2a. Die Verringerung der allgemeinen Lebenszufriedenheit bei Betroffenen verblüfft nicht, müssen diese sich ständig über fehlende Barrierefreiheit, Falschparker auf Behindertenparkplätzen usw. ärgern. Erstaunlicherweise ist jedoch der Rückgang für Angehörige etwa doppelt so stark ist wie der der Betroffenen. Die Skala „Stimmungsniveau“, die eine Bewertung der Situation liefert, birgt eine weitere Überraschung. In Abb. 2b ist zu sehen, dass für pflegende Angehörige ein Rückgang zu verzeichnen ist, der Wert für Betroffene jedoch dem der Kontrollgruppe entspricht. Obwohl ihre Lebenszufriedenheit verringert ist, hat dieses keinerlei Einfluss auf das Stimmungsniveau.

Bei Betroffenen ist das Stimmungsniveau unabhängig vom der allgemeinen Lebenszufriedenheit. Sie haben eine schlechte Lebenszufriedenheit ohne dass sie zu unglücklichen Menschen werden. Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass dies nicht für die ersten 1 – 2 Jahre nach dem Infarkt gilt. Charakteristisch für diese Zeit sind tiefe Depressionen. Ein Grund für die spätere Trennung von Stimmungsniveau und allgemeiner Lebenszufriedenheit kann nicht angegeben werden. Sicher ist nur, dass ein vergleichbarer Effekt in der Gruppe pflegender Angehöriger nicht beobachtet wird.

Schlussfolgerung
Diese kleine Umfrage verdeutlicht, dass pflegende Angehörige mit ihrer Lebenssituation ähnlich unzufrieden sind wie die Betroffenen. Kurioserweise bewerten jedoch gesunde Angehörige ihre Situation schlechter als die Betroffenen, deren Gesundheit ruiniert ist.

Es lassen sich jedoch auch große Unterschiede zwischen den Gruppen pflegender Angehöriger und Betroffener finden. Bei den pflegenden Angehörigen führt die Lebenssituation zu einem erhöhten Leidensdruck und somit zu einem Einbruch beim Stimmungsniveau. Bei Betroffenen ist hiervon nichts zu spüren. Ihr Stimmungsniveau entspricht dem der Kontrollgruppe [12]. Die Frage, ob ihr Leben noch lebenswert ist, stellt sich für diese Personengruppe nicht. (2)

Es gilt, aus diesen Erkenntnissen die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen: Pflegende Angehörige sollten in ihrer Tätigkeit durch professionelle Kräfte entlastet werden. Weiterhin hüte man sich davor, die Situation der Angehörigen auf die Betroffenen selbst zu übertragen. Bei ihnen wird durch eine vergleichbare Situation das Stimmungsniveau nicht negativ beeinflusst. Die körperliche Einschränkung der Betroffenen ruft in der untersuchten Gruppe keinen erhöhten Leidensdruck hervor – niemand wird wegen eines körperlichen Leidens zu einem unglücklichen Menschen. Pflegende Angehörige leiden viel mehr unter der Situation als die Betroffenen selbst. Dieses ist ein klares Ergebnis dieser kleinen Studie.

Danksagung
Wir bedanken uns bei allen Personen, die bereitwillig für die Umfrage Auskunft gegeben haben. Unser besonderer Dank gilt dem Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin, der den Workshop durch seine finanzielle Unterstützung erst ermöglicht hat.

Bei Betroffenen ist das Stimmungsniveau unabhängig vom der allgemeinen Lebenszufriedenheit. Sie haben eine schlechte Lebenszufriedenheit ohne dass sie zu unglücklichen Menschen werden. Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass dies nicht für die ersten 1 – 2 Jahre nach dem Infarkt gilt. Charakteristisch für diese Zeit sind tiefe Depressionen. Ein Grund für die spätere Trennung von Stimmungsniveau und allgemeiner Lebenszufriedenheit kann nicht angegeben werden. Sicher ist nur, dass ein vergleichbarer Effekt in der Gruppe pflegender Angehöriger nicht beobachtet wird.

(1) Das Verfahren erhält seine Berechtigung dadurch, dass die Gaußverteilung um den Vertrauensbereich auf der Abszisse verschoben ist.

(2) Nicht allen Menschen gefällt ein derartiges Ergebnis. Dies mag auch einer der Gründe sein, warum Prof. Niels Birbaumer mit seiner Arbeitsgruppe in die Kritik geraten ist. Die Arbeitsgruppe machte vergleichbare Beobachtungen an ALS-Betroffenen im fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung.

Referenzen:
[1] Wetzstein M, Rommel A, Lange C (2015) Pflegende Angehörige – Deutschlands größter Pflegedienst (Hrsg.) Robert Koch – Institut, Berlin. GBE kompakt 6 (3) und dortige Zitate.
[2] A Kurz & G Wilz (2011) Die Belastung pflegender Angehöriger bei Demenz. Der Nervenarzt, Volume 82, Ausg. 3 , pp 336–342.
[3] medienpsychologie.hf.uni-koeln.de (2007) Projekt Längsschnittstudie zur Belastung pflegender Angehöriger von demenziell Erkrankten (LEANDER) A PHASE.
[4] Pantke K.-H. & Meyer E. (2011) Das Locked-in Syndrom: Ein häufig verkanntes Krankheitsbild, Pflegezeitschrift Jg. (64), Heft 1, pp. 25-29.
[5] Pantke K.-H. et al. (Hrsg.) (2011) Das Locked-inSyndrom. Geschichte, Erscheinungsbild, Diagnose und Chancen der Rehabilitation. Mabuse-Verlag, Frankfurt/Main und dortige Zitate.
[6] Plum, F. & Posner, J.B. (1983) The Diagnosis of Stupor and Coma. Davis, F.A., Philadelphia, PA.
[7] Spiegel online vom 23.11.09.
[8] Pantke K.-H. (1999) Locked-in – Gefangen im eigenen Körper. Mabuse-Verlag. Frankfurt/ Main.
[9] Stoll S. (2019) SOS – per Lidschlag – SOS . kleingladenbach verlag GMBH, Breidenbach.
[10] Pantke K. H. (Hrsg.) (2018) Das zweite Leben – Interviews mit Überlebenden eines Locked-in-Syndroms. Mabuse-Verlag 2018, Frankfurt /Main.
[11] Die Habituelle Subjektive Wohlbefindensskala (HSWBS; Dalbert, 1992) zu finden in: Leibniz‐Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID), http://www.zpid.de/Testarchiv
[12] Pantke K.-H.& Birbaumer N. (2012) Die Lebensqualität nach einem Locked-in Syndrom. Logos interdisziplinär, Jg.20, Ausg. 4, pp, 296 – 300.

 

Information zu Autoren und Organisationen

Dr. Karl-Heinz Pantke ist Vorsitzender von LIS e.V. und der Christine Kühn Stiftung. Er bestreitet Lehraufträge in Unterstützter Kommunikation an der Alice Salomon Hochschule und berufsbildenden Schulen. Er hat ein Locked-in Syndrom überlebt.

Linda Loschinski ist Klinische Psychologin (M. Sc.). Sie ist seit 2013 als wissenschaftliche Mitarbeiterin für die Christine Kühn Stiftung tätig. 2016 erfolgte zudem eine Anstellung als klinische Psychologin in der Reha Tagesklinik für Neurologie, Orthopädie und Geriatrie in Berlin.

LIS e.V. ist die Heimstätte von Überlebenden des Locked-in Syndroms. (Nähere Informationen auf der Homepage) www.locked-in-syndrom.org

Die Christine Kühn Stiftung wurde von der Namensgeberin testamentarisch gegründet und hat die wissenschaftliche Untersuchung des Locked-in Syndroms, sowie die Untersuchung und Verbesserung der Lebensbedingungen Betroffener zum Ziel.

Kontakt:

Dr. Karl-Heinz Pantke
LIS e.V.
Ev. Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge
Herzbergstraße 79, Haus 30
10365 Berlin
Telefon, Fax u. Email: Tel: 030 – 34 39 89 75
Fax: 030 – 34 39 89 73
Email: pantkelis@acor.de