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Der weite Weg bis zur Einschulung

Drei beatmete Kinder aus dem Kinderhaus Luftikus gehen zur Schule.

Im Kinderhaus Luftikus in Baiersbronn im Schwarzwald sind acht Kinder zu Hause. Sie werden dort außerklinisch intensivversorgt. Bisher wurden die Kinder im schulpflichtigen Alter von Pädagog*innen in den Räumlichkeiten des Kinderhauses unterrichtet. Seit September 2018 gehen drei Kinder in die nächstgelegene KBF-Schule – eine staatlich anerkannte Ersatzschule für SchülerInnen mit körperlicher Beeinträchtigung. Der Schulbesuch ist ein Novum für die Luftikus-Kinder, der erst nach langer Planung und großem organisatorischen Aufwand möglich ist. Der Einsatz und die teils zähen Verhandlungen hätten sich aber in jeder Hinsicht gelohnt, berichten Alexander Walter, Geschäftsführer des Kinderhauses, und Christine Seid, Kinderkrankenschwester und Pflegedienstleiterin, im Gespräch.

„Der 9-jährige Paul hatte an seinen ersten Schultagen vor Aufregung eine sehr hohe Herzfrequenz, wenn der Schulbus vor dem Kinderhaus stand. Wir haben überlegt, woran das liegen könnte, und ob die Schule das Richtige für ihn ist. Aber er brauchte einfach Zeit. Am Anfang haben wir ihn immer wieder ein paar Tage zu Hause behalten, damit er sich ganz langsam an die Schule gewöhnt. Seit Dezember läuft es für ihn richtig gut. Er steigt ganz entspannt in den Schulbus und wir merken, dass ihm die Schule guttut, das teilt er uns durch seine Mimik und Gestik mit“ erläutert Christine Seid.

Für sie, Alexander Walter und das Team des Kinderhauses war es ein weiter Weg mit vielen bürokratischen Hürden, bis der Schulbesuch der beatmeten Kinder möglich war. Zu Beginn gab es zahlreiche Gespräche im Team, mit Pflegekräften, Pädagog*innen und Kinderärzten, wie ein Schulbesuch praktisch umgesetzt werden könnte. Einige Kinder, die im Kinderhaus leben, haben keine Eltern, die für sie sorgen können. Diese Situation erfordert von Alexander Walter und Christine Seid besonderes Engagement und den Mut, neue Wege auszuprobieren, so berichten sie: „Die Betreuungssituation ist bei einigen Kindern unklar ist. Für sie ist niemand da, der Entscheidungen trifft, so liegt es in unserer Hand, ob wir aktiv werden, ansonsten passiert gar nichts. Dann geht das Kind weder in den Kindergarten noch in die Schule. Diese Chancen wollen wir unseren Kindern im Luftikus aber nicht verwehren.“

Der Schulbus der KBF-Schule holt die drei Kinder im Alter von sechs bis neun Jahren an drei Tagen in der Woche um 9 Uhr ab. Ihre Klassenkameraden sitzen da schon in der ersten Unterrichtsstunde. Dass die Luftikus-Kinder erst ab der zweiten Stunde am Unterricht teilnehmen, hat ganz praktische Gründe, die Alexander Walter erläutert: „Unsere Kinder benötigen Equipment, das auf den Touren im Bus keinen Platz hat. Deshalb haben wir in Kooperation mit der Schule eine andere Lösung gefunden. Zuerst werden alle anderen Kinder aus dem Kreis Freudenstadt eingesammelt und in die Schule gebracht, danach holt er unsere Kinder ab. Die Schule hat den Stundenplan bewusst so gestaltet, dass Unterrichtseinheiten, an denen unsere Kinder nicht teilnehmen können, in der ersten oder letzten Stunde stattfinden.“ Der Schulbus steht zur letzten Stunde bereit, um zuerst die Luftikus-Kinder nach Hause zu bringen. Alexander Walter betont, dass die Zusammenarbeit mit dem Schulleiter von Anfang an sehr kooperativ und hilfreich gewesen sei, „er hat uns unterstützt und hatte ein offenes Ohr, sodass wir gemeinsame Lösungen finden konnten.“

Der Schulweg sei aber nur eine von vielen organisatorischen Fragen gewesen, die im Vorfeld geklärt werden mussten. Christine Seid erläutert, dass z.B. die Unterbringung eines Sauerstofftanks im Schulgebäude eine Herausforderung gewesen sei. „Es ist allein schon aus Brandschutzgründen eine heikle Frage, wo der Tank stehen kann. Er muss vor Ort sein, um den Satelliten, den das Kind immer dabeihaben muss, um im Notfall auffüllen zu können. Der Lieferant, der ihn regelmäßig befüllt, muss Zugang haben, der Tank darf aber nicht in einem öffentlich zugänglichen Raum stehen. Hinzukommt, dass der Tank für die Kinderkrankenschwester schnell erreichbar sein muss, damit sie nach möglichst kurzer Zeit wieder beim Kind ist. Eine Lösung zu finden, die für alle funktioniert, ist mitunter kompliziert.“

Dass sich die Kinder in der Schule gut entwickeln, sei schon in dieser kurzen Zeit festzustellen: „Eines unserer Schulkinder ist kognitiv sehr fit. Es hat in der Schule gelernt, sich auf etwas zu konzentrieren, vorher war es immer schnell abgelenkt. Auch seine Kommunikation hat sich enorm verbessert. Wir hatten den Eindruck, dass er sich damit abgefunden hatte, dass es darin stark eingeschränkt ist und sich nur mit wenigen Gebärden und ein paar Lauten mitteilen kann. In der Schule hat es gemerkt, dass es sich kommunikativ nicht einschränken lassen muss und sehr schnell weitere Gebärden gelernt. Unsere Pädagog*innen sind bei seinem Tempo kaum hinterhergekommen. Es hat jetzt auch registriert, dass mit der Sprechkanüle viel mehr möglich ist. Wenn ich daran zurückdenke, wie er sich noch vor Kurzem versucht hat auszudrücken, dann ist das jetzt ein großer Fortschritt. Vorher war es mit dem zufrieden, was es konnte, weil es verstanden wurde. In der Schule reichte das aber nicht aus und es hat gemerkt, dass es sich weiterentwickeln kann. Diese Fortschritte freuen uns alle sehr und bestärken uns darin, dass die Entscheidung, die Kinder in die Schule zu schicken, richtig ist.“

Alexander Walter und Christine Seid würden den Kindern gern noch mehr ermöglichen. Beide sind der Meinung, dass der Schulbesuch an drei Tagen pro Woche eigentlich zu wenig ist. „Es müsste mehr geben, aber wir bekommen allein schon das Pflegepersonal nicht zusätzlich finanziert“ fügt Christine Seid hinzu und betont, dass insbesondere die sozialen Kontakte für die Kinder enorm wichtig seien. In der Schule seien die Kinder sehr gut aufgenommen worden und sowohl bei Lehrer*innen als auch den Mitschüler*innen und deren Eltern integriert.

Aufgrund dieser positiven Erfahrungen möchte das Team des Kinderhauses Luftikus, dass die jüngeren Kinder einen Kindergarten besuchen können, um schon frühzeitig mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen. Die Vorbereitungen hierfür laufen bereits und erfordern erneut viel Zeit und großen Einsatz. Während es bei den Schulbesuchen keine Alternative zur KBF-Schule gab, da in der Grundschule von Baiersbronn gar kein behindertengerechtes Klassenzimmer zur Verfügung gestanden hätte, gibt es nun verschiedene Optionen. Die Kinder könnten den KBF-Kindergarten besuchen oder einen Regelkindergarten. Eine Entscheidung mit Tragweite wie Alexander Walter erklärt: „Bei KBF-Kindergarten und - Schule wird der Transport übernommen und mit dem Jugendamt abgerechnet. Bei Regelkindergarten und -schule sind wir dafür verantwortlich und das ist ein großes Problem, da ein entsprechendes Fahrzeug fehlt, ein großer organisatorischer Aufwand besteht und vor allem zusätzliches Personal erforderlich ist. Aber daran soll es am Ende nicht hängen.“

Neben den organisatorischen Gesichtspunkten, diskutierte das Team auch intensiv über das Thema „Inklusion“ und die damit verbundene Frage, welche Einrichtung für das jeweilige Kind am besten sei – der KBF- oder der Regelkindergarten. Christine Seid merkt dazu an: „Das ist schwierig. Für gesunde Kinder ist es sicherlich eine wichtige Erfahrung, ein Kind kennenzulernen, das nicht alles kann, aber ich sehe dabei natürlich auch das beatmete Kind, das vielleicht eine große Frustration erlebt, weil es spürt: ‚Ich kann mich mündlich nicht so artikulieren und werde das auch nie können. Ich werde nie laufen lernen und brauche immer jemanden, der mich begleitet.‘ Für dieses Kind kann es leichter sein, wenn es mit anderen zusammen ist, die auch mit körperlichen Einschränkungen leben müssen.“ Christine Seid und Alexander Walter wollen aber den Besuch des Regelkindergartens ausprobieren, so fügt er hinzu: „Wir diskutieren rege, welcher Weg der richtige ist. Dabei steht immer die Frage im Vordergrund, was für das einzelne Kind das Beste ist. Natürlich hat der KBF-Kindergarten kleinere Gruppen und eine individuellere Betreuung, auf der anderen Seite schätze ich die Fördermöglichkeiten im Regelkindergarten höher ein, weil die Kinder viel mehr mitbekommen. Bei diesen Entscheidungen versuchen wir objektiv zu sein und im Team einen Konsens zu finden. Ich habe eigene Kinder und überlege bei solchen Fragen: ‚Welche Entscheidung würde ich für mein eigenes Kind treffen?‘ In diesem Fall würde ich den Versuch im Regelkindergarten machen. Die Struktur des Kinderhauses bringt es mit sich, dass die Entscheidung komplizierter ist, da alle – unsere Pflegekräfte, Pädagogen und Kinderärzte – daran beteiligt sind. Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir es im Regelkindergarten probieren. Dann schauen wir, wie es klappt und haben die Möglichkeit, günstige Betreuungszeiten zu wählen, z. B. können wir die Kinder nachmittags in den Kindergarten bringen, wenn dort ohnehin nicht mehr so viel los ist und beobachten, wie das funktioniert. Wenn wir sehen, dass es nicht klappt, reagieren wir schnell und suchen eine andere Möglichkeit.“

Alexander Walter und Christine Seid wollen nichts unversucht lassen, um die Kinder zu fördern, so machen sie deutlich: „Wenn man die Kinder mag, die man betreut – und wir mögen unsere Kinder im Luftikus sehr – dann muss man versuchen, das Beste für sie zu erreichen. Im Team haben wir im Vorfeld besprochen, dass der organisatorische Aufwand sehr hoch ist und zu Anfang gar nicht abschätzbar, aber wir waren uns einig und haben gesagt: ‚Wir können das deshalb nicht unversucht lassen.‘“

Die Schul- und Kindergartenbesuche hängen aber stets an einem seidenen Faden: Die personelle Situation. „Wir können keine zwei Pflegekräfte für den Schulbesuch abstellen, weil sie dann im Luftikus fehlen. Wir hatten eine Praktikanten – eine fertig ausgebildete Kinderkrankenschwester. Sie war ein Glücksfall und uns eine große Hilfe, da sie von der examinierten Fachkraft sehr schnell angeleitet werden konnte. Wir würden sofort weitere fünf bis zehn Kinderkrankenschwestern einstellen. Uns fehlt einfach Personal, und deswegen sind wir auch immer noch nicht voll besetzt. Wenn z.B. zwei Fachkräfte kündigen und ein Mitarbeiter*in krank wird, können wir die Schulbesuche nicht weiterführen.“

Die Mitarbeiter des Kinderhauses sind entschlossen, sich dafür einzusetzen, dass dieser Fall nicht eintritt. Um ein Praktikum im Kinderhaus Luftikus attraktiv zu machen, organisieren sie gerade eine kleine Ferienwohnung in der unmittelbaren Nachbarschaft, die für die Dauer eines Praktikums bezogen werden kann.

Dass es immer wieder mit Kostenträgern zähe Verhandlungen gibt, empfinden Christine Seid und Alexander Walter als belastend. Sie beschreiben es als äußerst hinderlich, dass sich die verschiedenen Stellen gegenseitig die Verantwortung zuzuschieben, so z.B. bei der Frage der Bezahlung der Pädagog*innen, die im Kinderhaus tätig sind, so erläutern sie: „In unserem Fall bezahlt die Krankenkasse die pädagogische Betreuung der Kinder. Das ist erst einmal gut, es führt aber dazu, dass alle anderen Kostenträgern sagen: ‚Ihr bekommt Pädagogen bezahlt, damit ist gewährleistet, dass die Kinder unterrichtet werden.‘ Für uns bedeutet das, dass wir z.B. kein Geld über die Frühförderstelle bekommen können, wenn es um die Kindergarten- oder Schulbesuche geht.“ Auch wenn es um die Beantragung von notwendigen Hilfsmitteln geht, seien es oft langwierige Verhandlungen mit den Kostenträgern ergänzt Seid. „Einer unserer Jungen ist einseitig eingeschränkt, aber sehr mobil. Er muss sein Beatmungsequipment unbedingt immer mitführen, allerdings wiegt das 7 – 8 kg. Mit seinem Aktivrollstuhl kann er sich selbständig bewegen, er bräuchte aber einen E-Rollstuhl, um auch mit dem Equipment so mobil zu sein. Wir haben viele Gespräche geführt, damit wir einen E-Rolli für ihn bekommen. Die Krankenkasse bewilligt diesen aber einfach nicht. Sie begründet das damit, dass der Junge nicht in der Lage sei, einen E-Rolli zu bedienen. Wir haben das aber mit einem Leihgerät getestet. Er kann das sehr gut. Auch die Schulbesuche wären dann kein Problem. Dennoch lehnt die Krankenkasse die Kostenübernahme seit 10 Monaten ab. In der Begründung heißt es, das Kind wachse und brauche in einem Jahr wieder einen teuren Rollstuhl. Der Rollstuhl kann aber dreimal angepasst werden, sodass das Kind sich damit drei bis vier Jahre lang bewegen könnte. Zusätzlich gibt es noch das Problem, dass die Kinder in unterschiedlichen Bundesländern krankenversichert sind und die Kassen z.T. völlig unterschiedlich mit den einzelnen Fällen umgehen. Während die eine Kasse sofort bewilligt, wird derselbe Antrag anderswo immer wieder abgelehnt.“

Das Kinderhaus Luftikus freut sich jederzeit über Bewerbungen von qualifizierten Pflegekräften und natürlich über Spenden, um u.a. den Besuch des Kindergartens und der Schule zu ermöglichen.

Dieser Artikel erschien in GD 44, April 2019, S. 54 – 55. Das Gespräch mit Alexander Walter und Christine Seid führte Dr. Lena Panzer-Selz.