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Das Gremium der Selbstbestimmung in einer Wohngemeinschaft am Beispiel Bad Kissingen

Am 30. Juli 2019 fand in der Wohngemeinschaft für Menschen mit Intensivpflege und Beatmung, Hartmannstraße 20, das erste Treffen zur Bildung eines Gremiums der Selbstbestimmung statt. Hierzu hatte Dorothee Seidl, pflegerische Leitung der Wohngemeinschaft und Sicherheitsbeauftragte, der Heimbeatmungsservice Brambring Jaschke GmbH eingeladen.

„Jeder, der bei uns einziehen möchte, wird beim Erstgespräch darüber informiert, dass es in jeder Wohngemeinschaft ein solches Gremium geben muss. Es ist, ich spreche jetzt für Bayern, sozusagen der Kern dieser Wohn- und Betreuungsform“, so Frau Seidl. Ist der Mieter selbst nicht mehr in der Lage, im Gremium mitzuwirken und dort seine Interessen wahrzunehmen, übernehmen die Angehörigen oder ein Vertreter diese Aufgabe.

Das Gesetz, in dem dies vorgeschrieben ist, heißt „Gesetz zur Regelung der Pflege-, Betreuungs- und Wohnqualität im Alter und bei Behinderung (Pflege- und Wohnqualitätsgesetz – PfleWoqG)“. Für das Gremium der Selbstbestimmung stellte das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die Vorlage eines „Gesellschaftsvertrags nach §§ 705 ff. BGB“ zur Verfügung, den jeder, der in eine Wohngemeinschaft einzieht, unterschreiben muss. Es geht immerhin um sein ureigenstes Recht auf ein selbstbestimmtes Leben, selbst bei schwerster Beeinträchtigung oder sogar der Notwendigkeit, beatmet zu werden. Am Anfang steht die Wahl eines Sprechers oder einer Sprecherin sowie der Person, die die Haushaltskasse führt. Das Gremium entscheidet sodann gemeinschaftlich beispielsweise über die Anschaffung und Instandhaltung  gemeinschaftlicher Gegenstände, die Durchführung Renovierungsarbeiten an Gemeinschaftsflächen, den Abschluss von erforderlichen bzw. sinnvollen Versicherungen und ob Haustiere gehalten werden dürfen. Es entscheidet auch darüber, wer sie betreuen soll bzw. welchen Pflegedienst oder welche Pflegedienste sie wählen. Jede Wohngemeinschaft, auch die in der Hartmannstraße, hat Einzelzimmer, in denen der Mieter ganz alleine bestimmen kann. Aber es gibt auch Gemeinschaftsbereiche wie die Küche, der Bereich für gemeinsame Aktivitäten wie Fernsehen, Spielen, Essen und Feiern. Hier muss man sich natürlich über die Nutzung einig sein. Kommt es zu Konflikten, ist wiederum das Gremium der Selbstbestimmung gefragt, das, wenn nötig, eine neutrale Person zur Schlichtung hinzuziehen soll.

Es ist jedoch immer gut, wenn es eine sachkundige und neutrale Person gibt, die die Betroffenen, ihre Angehörigen und Vertreter zuerst einmal über das Gremium der Selbstbestimmung berät und die Einzelheiten erklärt. „Bis jemand in eine Wohngemeinschaft einzieht, wissen es die meisten Leute nicht, dass es in Wohngemeinschaften so klare Regeln und die Möglichkeiten zur Selbstbestimmung gibt“, sagt Dorothee Seidl. Umso dankbarer ist sie Bernhard Schlereth, dem langjährigen Stadtrat und Behindertenbeauftragten der Stadt Bad Kissingen, dass er das Gremium der Selbstbestimmung in der Wohngemeinschaft als unabhängiger Moderator unterstützt. „Als ich ihn fragte, hat er sofort bereit, bei der Gründungsversammlung dabei zu sein. Um sie vorzubereiten, haben wir uns vorher getroffen und alles durchgesprochen. Es muss ja rechtlich alles stimmen, angefangen von den Wahlen bis hin zur Haushaltskasse“, so Frau Seidl weiter. Alles ging dann zügig und korrekt an diesem Abend über die Bühne; das Gremium der Selbstbestimmung in der Hartmannstraße 20 ist entscheidungs- und beschlussfähig. Als Sprecherin des Gremiums wurde Evi N. gewählt. Nach dem offiziellen Teil des Abends ließ man gemeinsam den Abend ausklingen.

„Ich finde es sehr sinnvoll und für unsere Arbeit hilfreich, dass ein Gremium der Selbstbestimmung gewählt wird“, sagt die pflegerische Leiterin. „Man lernt einander besser kennen, man kann sich miteinander austauschen und das gemütliche Zusammensein genießen.“ Die Räumlichkeiten der noch sehr neuen Wohngemeinschaft sind hierfür ideal. Eine Innenarchitektin hat sie geschmackvoll geplant und eingerichtet. Alles ist großzügig, licht, mit warmen Farben an den Wänden. Man merkt aber auch, dass Dorothee Seidl und ihr Team einfach Freude daran haben, die Bewohner*innen nicht nur hingebungsvoll zu pflegen, sondern ein schönes Zuhause zu schaffen. „Aber natürlich immer nur so, wie es das Gremium der Selbstbestimmung möchte“, lacht Frau Seidl augenzwinkernd. Es hat sich noch keiner darüber beschwert, als sie als Überraschung zu einem gemeinsamen Weihnachtsessen am Heiligen Abend einlud oder wenn sie einen spontanen Ausflug in den nahen Rosengarten „anordnet“. Wenn doch, wäre Bernhard Schlereth sofort zur Stelle!

Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er solche Termine wie die Gründungsversammlung alle in seiner Freizeit und im Ehrenamt wahrnimmt. Und das nicht nur in der Wohngemeinschaft, sondern als Behindertenbeauftragter ist er auch oft bei betroffenen Menschen zuhause oder in geschlossenen Gesellschaften. Sein Terminkalender spricht Bände! Alle, die sich in der Wohngemeinschaft zusammengefunden hatten, dankten Schlereth für sein großes Engagement und die kompetente Beratung.

Die Heimbeatmungsservice Brambring Jaschke GmbH hat in Bad Kissingen zwei Wohngemeinschaften. Doch auch andere Pflegedienste haben dieses Angebot. Am 10.03.2019 gab Bayerns Gesundheits- und Pflegeministerin Melanie Huml bekannt, dass es zum Jahresende 2018 in Bayern 363 ambulant betreute Wohngemeinschaften, – 24 mehr als im Vorjahr, gibt. Etwa jede zweite Wohngemeinschaft sei eine Intensivpflege-WG. So würden im Freistaat derzeit knapp 900 in ambulant betreuten Wohngemeinschaften außerklinisch intensivpflegerisch betreut.

Das Foto links zeigt die Gründungsversammlung des Gremiums der Selbstbestimmung mit den Angehörigen. In der Mitte (4.v.re) Bernhard Schlereth, langjähriger Stadtrat und Behindertenbeauftragter der Stadt Bad Kissingen, neben der pflegerischen Leitung der WG, Dorothee Seidl (3.v.re) und mittleres Foto. Das Foto rechts zeigt einen Ausflug mit einigen WG-Bewohnern in den Bad Kissinger Rosengarten.

Dieser Bericht erschien der GD 46, Oktober 2019, sowie in der örtlichen Presse.